Echt? Martin Luther als Ausgangspunkt für weltanschauliche Pluralität?

Da hat wohl die dialektische Falle historischen Erinnerns zugeschnappt: Man bedenkt ein geschichtliches Ereignis, weil es eine Bedeutung für die Gegenwart haben soll. Damit interpretiert man dieses Ereignis unter modernen Gesichtspunkten und löst es aus seinem historischen Kontext. Es soll ja modern erscheinen. Und lässt dabei oft die Herkunft und die historischen Grenzen außer Acht.

Nein, Martin Luther war kein Freund religiöser VIelfalt oder gar Toleranz. Aber das war auch keiner seiner Zeitgenossen. Man muss sich ja auch vorstellen, dass die Christenheit am Ausgang des Mittelalters praktisch keine Begegnungen mit fremdem Glauben oder gar mit fremden Religionen kannte. Juden wurden im Mittelalter verfolgt, vertrieben oder in Ghettos gepackt. Der Islam trat als äußerer Feind in Gestalt des osmanischen Weltreichs auf. Reste paganer, heidnischer Vorstellungen wurden als Aberglaube gebrandmarkt oder als Hexerei verfolgt. Abweichenden Glaubensvorstellungen machte man den Ketzerprozess.

Pluralität war eigentlich erst möglich, nachdem die beiden zentralen Akteure – Luther einerseits und Kaiser Karl V. sowie das Papsttum andererseits – mit ihren theologischen bzw. politischen Universalprogrammen gescheitert waren. Universalität sah einen einheitlichen Glauben im ganzen Reich vor. Erst durch das Ende dieses Universalismus war der Weg frei für die kulturelle und politische Differenzierung Europas, langfristig auch für den weltanschaulichen Pluralismus moderner Gesellschaften.

Karl V. als „Weltherrscher“ (P.P. Rubens)

Universalismus herrschte nicht nur bei Kaiser und Papst, sondern auch bei Martin Luther. Eine Pluralität religiöser Wahrheiten lag außerhalb seiner Vorstellungskraft. Als sich weite Teile des Reichs der evangelischen Erneuerung des Christentums zu öffnen schienen, war es für Luther nur eine Frage der Zeit, bis diese Lehre überall Anerkennung finden würde. Als aber im Verlauf der 1520er Jahre der Widerstand gegen seine Lehre im katholischer Lager stärker wurde und auch innerhalb der reformatorischen Bewegung Gegner auftraten, die das wiederentdeckte Evangelium radikal und notfalls auch gewaltsam durchsetzen wollten – Thomas Münzer und die aufständischen Bauern, sein Kollege in Wittenberg Karlstadt, die „Zwickauer Propheten“, später das Münsteraner Täuferreich –, zeigten sich die Grenzen von Luthers Optimismus. Luther bekämpfte diese Entwicklungen zwar auch theologisch, sah aber bald die Notwendigkeit eines Eingriffs durch die politischen Obrigkeiten. Abweichungen von der reinen Lehre konnte Luther nicht dulden, gefährdeten sie doch die Ausbreitung des Evangeliums und die Freiheit des Gewissens der Einzelnen.

Und persönlich? Seine Unfähigkeit mit Andersdenken in einen Dialog einzutreten ist die dunkle Kehrseite seiner prophetischen Selbstgewissheit.

Trotzdem ergeben sich aus der Reformation Luthers zentrale Aspekte für eine evangelische Perspektive auf die religiöse und weltanschauliche Vielfalt. Dazu muss man allerdings Luthers Überlegungen gegen ihn selbst richten – also Luthers Theologe gegen seine pragmatischen und politischen Entscheidungen. Wir können aber auch sehen, dass seine Position immer dann besonders stark war, wenn er sich theologischer Argumente bediente. Ließ er sich von anderen Kriterien leiten, fiel er selbst wieder hinter seine Erkenntnisse zurück und wurde intolerant

Ich plädiere also ganz stark für ein theologisches Argumentieren!

Dann entdecken wir: Luther befreite eine grundlegende biblische Erkenntnis vom Schutt der Geschichte: Wir Menschen können und brauchen unser Leben nicht selbst ganz und heil machen. Gott gibt unserem Leben Wert und Sinn, wir sind ihm so viel wert, dass er selbst Mensch wurde, für uns starb und auferstand.

Das können wir in die Begegnung mit dem Pluralismus unserer Gesellschaften einbringen. Und es wird sich zeigen, dass die Botschaft von der „Rechtfertigung des Sünders“ einen befreiten Blick auf Gott, die Welt und uns selbst gestattet, auf die Gebrochenheit des menschlichen und

auch des religiösen Lebens. Wenn Gott die Welt in Christus versöhnt hat, bedeute dies nicht, das Christentum besitze das Heil oder verfüge darüber. Christen können andere nicht vom Heil ausschließen, weil dies gar keine menschliche Aufgabe sei. Der christliche Glaube bekennt Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt und folglich haben wir es in den Religionen mit Menschen zu tun, an denen Gott und durch die er immer schon handelt. Gott bleibt aber verborgen – bis er in Christus ausgelegt und vom Heiligen Geist beleuchtet wird. Insofern ist das Christentum auch eine Religion für die Religionen und hat ihnen etwas zu sagen.

Christliche Wahrheit ist – mit Luther und historisch auch gegen Luther! – keine Rechthaberei! Auch wenn Jesus den Anspruch formuliert, er sei Weg, wahrheit und Leben (Joh 14,6), so gibt Jesus hier eine Antwort auf die Ungewissheit der Jünger, die Jesu Weg gerade nicht kennen, den Weg, der ans Kreuz führt und damit zum Verzicht auf alles Überwältigende. Das „Leben“ bleibt unter dem Gegenteil des Todes verborgen. So bleiben aus evangelischer Sicht alle Religionsgespräche immer in der Spannung zwischen der Ausrichtung an der Wahrheit und der Unmöglichkeit, Recht zu behalten.

Und die reformatorischen „Exklusivpartikel“? Allein Christus, die Schrift usw.? Sie zielen historisch auf Eindeutigkeit und Unverwechselbarkeit:

„Allein Christus“ –  ist keine Lizenz zur Nötigung, sondern formuliert das freie Bekenntnis; dass in keinem anderen das Heil liege

„Allein der Glaube“ – gegen Leistungsfrömmigkeit, Gesetzlichkeit oder fromme Moral

„Allein die Gnade – Gott selber macht unser Leben ganz und heil, auch unser Glaube ist Gnade und Geschenk.

„Allein die Schrift“ meint keinen christlichen Bibelfundamentalismus, sondern lehnt jede andere, von der Bibel unterschiedene Instanz für Glaubensfragen ab, beispielsweise den Vorrang der Kirchenlehre.

Mit Luther gegen Luther – und wieder neu theologisch denken!