Karfreitag Nachmittag. Jesu Todesstunde. Wie in vielen Jahren zuvor lege ich eine alte Schallplatte auf: Krzysztof Pendereckis Lukaspassion. Einmal im Jahr mache ich das. Im Haus bleibt es ruhig, denn ich sitze hier mit Kopfhörer. Das ist wohl auch besser so. Keiner aus meiner Familie möchte das hören!

Diese Passionsmusik ist sehr fremd. Und eher selten gespielt im Vergleich zu den großen Passionen von Johann Sebastian Bach.

Der polnische Komponist Krzysztof Penderecki (*1933)

1966 in Münster uraufgeführt, als Auftragskomposition des WDR – also ein wenig sogar eine „westfälische Passionsmusik“. Der damals gerade 33jährige polnische Avantgarde-Komponist suchte nach Ausdrucksmöglich-keiten, mit heutigen Mitteln Jesu Leiden und Sterben hörbar zu machen. Und griff dabei auf viele Techniken zurück, für die er damals berühmt (und berüchtigt) war: massive Cluster, harte Staccati und pizzicato-ähnliche Laute des Chores, Glissandi, Schlagzeuggewitter, das Auskosten der extremen Lagen und Dynamiken bei sämtlichen Instrumenten, unkonventionelle Satz- und Spielweisen, Vierteltonintervalle, geräuschhafte Wirkungen, Heulen, Flüstern, Lachen und Schreien usw. Der Text aus der Passionsgeschichte des Lukasevangeliums, ergänzt um Hymnen, Teile von Karfreitagsliturgien und die Mariensequenz Stabat Mater, folgt der lateinischen Vulgata-Bibel. Das schafft Distanz. Versachlicht die Schrecken der Passion. Und schafft durch die Klangfarbe eine Verbindung zwischen Stimmen und Instrumenten.

Wirklich sehr fremd. Kein Wunder, dass ich Kopfhörer verwenden soll… Ich höre es ja selbst eher selten. Auch mir liegt wohl Bach näher.

Aber an Karfreitagen wie diesen…

Ja, manchmal sind mir die vertrauteren Interpretationen und Deutungen der Passion, wie sie auch Bach unübertroffen vornimmt, zu vertraut, werden allzu gewohnt. Und deshalb will ich mich diesem Fremden, Verborgenen, das da in Jesu Tod geschieht, aussetzen. Und höre dazu die Penderecki-Passion. Im Laufe der Jahre habe ich bei meiner alten Schallplatte immer mehr herausgehört: Wie Penderecki mit Zwölftonreihen und dem freien, unmetrischen Vortrag die Klangaura der Gregorianik erklingen lässt. Oder wie Vierteltonschritte und Cluster an altslawischen oder altorientalischen Kirchengesang erinnern, wie ich ihn einmal bei einer aramäischen Hochzeit gehört habe. Ich entdecke musikalische Motive, besonders in den eher kontemplativen Chören und Sologesängen: „Deus meus“ (mein Gott) oder den Ruf „Domine (Herr!)“ mit seinen schweren Halbtonschritten. Mitten in das Leiden, die Bedrohung, das Chaos ist „mein Gott, der Herr“ als Leitton hinein verwoben!

Es bewegt mich, nicht trotz, sondern weil es so fremd ist. So wie das Geschehen am Karfreitag. Der Tod Jesu, dass Gott sich in das Leid und in den Tod hineingibt, darf nicht durch alljährliche Routine abgeschliffen und allzu schnell theologisch deutbar und handhabbar werden! Dann verliert das alles seine Kraft und seine Tiefe. Es gibt Leid und Schmerz, das sich nicht lindern lässt! So wie Martin Luther es nach dem Tod seiner 13jährigen Tochter Magdalena schrieb: „Tief im Herzen haften Blicke, Gesichtszüge, Worte, Gesten der lebenden und sterbenden, sehr gehorsamen und verehrtesten Tochter, dass selbst Christi Tod, dies nicht ganz hinwegnehmen konnte, wie er es doch sollte.“

Manches Sterben kommt über die Klagemauer der Sinnlosigkeit nicht hinaus. Auch das ist Karfreitag.

Mir hilft diese fremde Musik, Gottes Fremdheit und Verborgenheit wahrzunehmen und auszuhalten.

 

Pendereckis Lukaspassion endet mit einem Psalm, mit dessen Worten Jesus im Lukasevangelium stirbt: „In manus tuas commendo spiritum meum: redestimi me, Domine, Deus veritatis – In deine Hände befehle ich meinen Geist: du hast mich erlöst, getreuer Gott!
Jesus war sich gewiss: Er konnte nicht tiefer fallen, als in die offenen Arme seines Vaters. So war ihm Loslassen möglich.

 

Tiefer als am Karfreitag können wir Gottes Liebe nicht ansichtig werden. Wie der Gekreuzigte dürfen auch wir unseren letzten Atemzug seinen Händen anbefehlen, all das loslassen was uns auf Erden besorgt, weil wir gehalten werden, für immer und ewig.

Pendereckis Passion hilft mir, das am Karfreitag jedes Jahr wieder neu zu entdecken.